Der Vernichtungskrieg

gegen die Sowjetunion aus Sicht der Opfer

Der Historiker Wolfram Wette zum Film "Steh auf, es ist Krieg"

Am 22. Juni 1991 ist es ein halbes Jahrhundert her, dass mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion der Zweite Weltkrieg in seine zerstörerischste Phase eintrat. Der deutsch-sowjetische Krieg von 1941-1945 war der größte Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte. In ihm wurden weit mehr als 30 Millionen Menschen getötet.

Von deutscher Seite wurde dieser Krieg von Beginn an anders geführt als die Kriege im Westen, in denen noch die Regeln des Kriegsvölkerrechts galten. Jetzt ging es nicht mehr bloß um militärische Siege, um dem Gegner den eigenen politischen Willen aufzwingen zu können, sondern um die Vernichtung dieses Gegners. Die Motive für diese menschenverachtende Strategie lagen auf der Ebene politisch-weltanschaulicher und rassenideologischer Glaubenssätze.

Die Vision vom „Lebensraum im Osten" für die germanische Herrenrasse nahm, ebenso wie die fixe Idee der Judenvernichtung, eine zentrale Rolle in Hitlers politischer Vorstellungswelt ein. Aber es war nicht Hitlers Vision allein. Er teilte sie mit einem beträchtlichen Teil der traditionellen Eliten in Wirtschaft, Militär, Bürokratie und selbst in den Kirchen. Wer leichthin von „Hitlers Krieg" spricht, vergisst die Mitverantwortung der Vielen.

Das Ziel der politischen und militärischen Führung Deutschlands, die Sowjetunion binnen weniger Wochen in einem „Blitzkrieg“ zu besiegen, musste eigentlich schon im Juli 1941 als gescheitert angesehen werden. Noch deutlicher wurde das Scheitern des „Unternehmens Barbarossa" im Winter 1941 durch die „Wende vor Moskau".
Die Schlacht von Stalingrad um die Jahreswende 1942/43 macht dann endgültig deutlich, dass die Sowjetunion militärisch nicht zu besiegen war.

 

Unvorstellbar viele Menschen verloren auf beiden Seiten ihr Leben. Fast in jeder deutschen und sowjetischen Familie waren Opfer dieses Krieges zu beklagen. Jahrzehntelang ging man von einer Zahl von 20 Millionen umgekommener Sowjetbürger aus - gegenüber etwa drei Millionen deutscher Soldaten - neuerdings sprechen sowjetische Regierungsstellen davon, dass 27 bis 28 Millionen Sowjetbürger im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren haben. Tausende von sowjetischen Dörfern und Städten wurden zerstört.

Der 22. Juni 1941 steht für den klassischen Fall eines Angriffskrieges, durchgeführt von der Wehrmacht des Deutschen Reiches auf Befehl ihres „Führers" und Oberbefehlshabers Adolf Hitler, und er steht für den Beginn eines Vernichtungskrieges, in dem die Einsatzgruppen der SS hinter der Front und im Zusammenwirken mit Wehrmachtstellen Millionen von Menschen systematisch ermordeten.
Sie ermordeten die Juden, die bolschewistische Führungsschicht der Sowjetunion, aber auch jene Sowjetbürger, die sich als „Hetzer, Freischärler, Saboteure, Partisanen", Träger eines aktiven oder passiven Widerstandes den deutschen Aggressoren entgegenstellten.

Hinzu kam, dass die Dezimierung der als minderwertig eingestuften slawischen Bevölkerung als wünschenswert galt. Sowohl das Massensterben kriegsgefangener Rotarmisten als auch die von der deutschen Besatzungsmacht gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung betriebene Hungerpolitik und die Verschleppung von Zwangsarbeitern müssen im Kontext dieses Vernichtungsdenkens interpretiert werden.

Die Legende, die Wehrmacht habe mit den Mordaktionen nichts zu tun gehabt, ja nicht einmal von ihnen gewusst, ist durch die Akten von Staat, Wehrmacht und SS sowie durch Zeitzeugenberichte und Fotodokumentationen längst widerlegt. Die speziellen Vernichtungsorganisationen der SS, die „Einsatzgruppen" und „Einsatzkommandos", operierten, wie es in einer entsprechenden Vereinbarung von Wehrmacht und SS hieß, ,,im Verbande des Heeres".

Die auffallend wenigen deutschen Fachhistoriker, die über die Judenmorde und den Russlandkrieg forschten, mussten sich immer wieder mit apologetischen Legenden herumschlagen und sie durch die Aufbereitung der Quellen widerlegen. Aus diesem Grunde sind einige wichtige Problemkreise des deutsch-sowjetischen Krieges bislang deutlich unterbelichtet geblieben. Dazu gehört zum einen das Leben des „kleinen Mannes"in der deutschen Wehrmacht und zum anderen das der sowjetischen Soldaten und der sowjetischen Zivilbevölkerung, die unter Krieg und Besatzung jahrelang zu leiden hatte.

Wenig zu lesen gibt es über jenen Typ des deutschen „Landsers", den man gezwungen hatte, in diesen Krieg zu gehen, und der sich deshalb in der ungemein schwierigen Doppelrolle des Täters und des Opfers befand. Noch weniger zu lesen gibt es über das konkrete Schicksal der vielen Millionen Sowjetbürger, die ebenfalls in einer inneren Zerrissenheit lebten. Denn einerseits hatten nicht wenige von ihnen zunächst mehr Angst vor Stalin als vor Hitler, verknüpften daher mit dem Einmarsch der Wehrmacht bestimmte positive Erwartungen und kollaborierten mit ihr, um dann jedoch enttäuscht zu erkennen, dass sie als Opfer des deutschen Überfalls ein noch schlimmeres Los gezogen hatten.

In dieses hochsensible historische Terrain schlägt der Film von Hartmut Kaminski eine Bresche. Ein halbes Jahrhundert nach dem Überfall gibt es nun erstmals einen deutschen Film zu diesem Thema. Hartmut Kaminski hat sich in mutiger Weise der verdienstvollen Aufgabe unterzogen, den deutsch-sowjetischen Krieg aus der Perspektive der sowjetischen Opfer zu zeigen. Er folgt damit den Spuren des Berliner Journalisten Paul Kohl, der - des Schweigens der Angehörigen der Kriegsgeneration überdrüssig - vor einigen Jahren aus eigenem Antrieb mehrfach die Sowjetunion bereist und überlebende sowjetische Augenzeugen des Vernichtungskrieges nach ihren Erinnerungen befragt hatte.

Kaminskis Film verfolgt nicht das Ziel und erhebt daher auch nicht den Anspruch, den deutsch-sowjetischen Krieg - analog zu einem historischen Handbuch - in braver Chronologie und nach allen Seiten hin abgewogen ins Bild zu setzen. Er schildert ihn vielmehr aus einem ganz bestimmten Blickwinkel, nämlich dem der Überfallenen, besonders der sowjetischen Zivilbevölkerung. Er identifiziert sich mit ihrem Leiden, indem er es einfühlsam rekonstruiert und macht damit eine Seite dieses Krieges sichtbar, die bislang so noch nicht durch das Fernsehen in die deutschen Wohnzimmer gelangt ist.

Nur gelegentlich greift der Filmautor zu jenem offiziellen Foto- und Filmmaterial, das professionelle Kriegsberichterstatter zu Propagandazwecken von angeblich immer siegreichen Schlachten herstellten und das wir ohnehin größtenteils schon kennen. Kaminski bietet Neues. Zum einen konnte er in sowjetischen Archiven, deren Mitarbeiter ihm bereitwillig halfen, eine große Zahl bislang unbekannter Bildquellen erschließen, die von großer Aussagekraft sind.

Den stärksten Eindruck hinterlassen die Gesichter der inzwischen alt gewordenen sowjetischen Augenzeugen des Vernichtungskrieges. Wichtig auch, dass wir sie in ihrem gegenwärtigen Lebensumfeld kennenlernen. Gelegentlich kontrastiert Kaminski die sowjetischen Erinnerungen mit den Aussagen von ehemaligen Wehrmachtssoldaten, die unbegreiflicherweise noch heute vor der Kamera zum Teil im Habitus des gerechten Eroberers auftreten.

Wir lernen im Laufe des Films zu begreifen, was es für die damaligen Sowjetbürger bedeutete, unter der Besatzungsherrschaft uniformierter und bewaffneter deutscher „Herrenmenschen" leben zu müssen. Um so mehr überrascht es, dass die sowjetischen Augenzeugen auch rückblickend keineswegs ein pauschales Verdammungsurteil über die Eroberer fällen, sondern zwischen „Faschisten" und „Deutschen" unterscheiden und sogar betonen, es habe nicht wenige anständige Menschen unter den damaligen Deutschen in Uniform gegeben.

Ist das, was uns Hartmut Kaminski in seinem Film schildert, nun die historische Wahrheit? Wir Zuschauer werden durch diesen Film erstmals in die Lage versetzt, einen Teil der historischen Wirklichkeit kennenzulernen, den wir bislang noch nicht kannten. Wer wollte so vermessen sein, zu behaupten, die Perspektive der russischen Bäuerin und des Arbeiters aus Minsk berge weniger Wahrheit in sich als die traditionelle Kriegsgeschichte mit ihrem kühlen Blick „von oben"? Dieser Film steuert Wesentliches zur Erkenntnis des deutsch-sowjetischen Krieges bei. Er vervollständigt daher das bisher recht einseitige Bild über das „Unternehmen Barbarossa", eines der grauenerregendsten Kapitel der Kriegsgeschichte.