Erikas Baltrauskas

schreibt an Hartmut Kaminski

Erikas Baltrauskas ist 2004 etwa 40 Jahre alt und lebt als Künstler in Kaunas. Sein Brief schildert die Situation in Litauen und den anderen baltischen Staaten und macht deutlich, warum das Filmpaket GO EAST für die Menschen in den neuen EU-Ländern wichtig ist.


Lieber Hartmut,

es hat mich sehr gefreut, ein paar Deiner Filme anzuschauen, die Du uns nach Kaunas gebracht hast. Ich hatte schon von einigen meiner russischen und belorussischen Freunden von Deinen Dokumentarfilmen gehört – bei uns funktioniert immer noch die „Flüsterpropaganda“, eine alte sowjetische Tradition – aber niemals erwartet, solche Menge unbekannte Archivmaterialien, Fakten und völlig neue Sichtweise auf unsere Geschichte, unsere Vergangenheit zu sehen. Denn Deine Filme zeigen wie im Spiegel unser Leben – manchmal ist es zum Lachen, diese Situationen mit Abstand zu sehen, meist aber schockierend, wie wir gebraucht und manipuliert wurden. Du kannst gar nicht glauben, welche Reaktionen Deine Filme ausgelöst haben, als wir ein „Wochenendseminar“ bei mir zu Hause abhielten, um sie mit Freunden, meinem „Zirkel“, anzusehen. Alles wurde wieder in uns wach, und wir diskutierten weit über Mitternacht. Es mag sein, dass solch ein vielschichtiges, historisches Porträt des Ex- sowjetischen Reiches nur von einem Ausländer gemacht werden konnte, der andere geistige Werte hat, eine andere Erziehung und Einstellung zum Leben, andere Erfahrungen…und große Symphatie für einfache, „normale“ Leute.

Das ist es, warum wir es für ausgesprochen wichtig halten, dass Deine Filme bei uns im Fernsehen gezeigt werden, wo sie besonders von älteren Menschen gesehen werden können, die sich noch an Stalins Terror, die Gulags in Sibirien, den 2. Weltkrieg und all die Schwierigkeiten in den Sowjetzeiten erinnern können - aber auch von der jüngeren Generation. Denn wir sind alle im „sowjetischen Geist“ aufgewachsen, erzogen, „brain-washed“.

Als wir vor 14 Jahren frei wurden, haben sich eine Menge politische, kulturelle und ökonomische Strukturen in unserem Lande geändert. Die meisten unserer früheren Kulturhäuser und Kinos der Sowjetzeit wurden geschlossen, besonders in den kleineren Städten. Bei uns in Kaunas z.B., der zweitgrößten Stadt Litauens, überlebten nur 2 von 15 Kinos.

Unser Land ist ein Bauernland, das bedeutet, dass der weitaus größte Teil der Bevölkerung auf dem Lande lebt, auf den Dörfern. Aber heutzutage sind die Menschen dort so arm, dass sie sich überhaupt kein Geld für Kinokarten kaufen können. Noch nicht einmal für die Busfahrkarten reicht es. Du kannst Dir doch vorstellen, was man mit 400 Litas /ca. 130 €/ (was meine Schwester pro Monat als Kindergärtnerin bekommt) anfangen kann, wenn die Preise langsam westlich werden, die Löhne aber auf dem Standard der Sowjetzeit bleiben.

Kino - das ist jetzt in unserem Land ein Luxus. So liegt es in ferner Zukunft, über die „Entwicklung des Kinos“ zu sprechen. Deswegen können unsere Leute nur durch das Fernsehen informiert und gebildet werden. Es ist traurig, aber zur Zeit ist das Fernsehen der einzige Lehrer und Erzieher des Volkes. Aber dort wird man dieser Verantwortung gar nicht gerecht. Ist es Zynismus, ist es Faulheit? Jedenfalls - die Situation in unserem Fernsehen ist bedauernswert. Wir sehen hauptsächlich amerikanischen „Schrott“ (rubbish), den unser Fernsehen als Geschenk bekommt. Normalerweise überspricht nur ein Sprecher den ganzen Film, und es ist manchmal gar nicht zu verstehen, wovon dieser handelt, denn die Dialoge sind nicht zu identifizieren. Die Sprecher lesen monoton, automatisch, ohne Pausen und Intonation. Für Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene – immer ist die Stimme gleich! Dazu kommt, dass die Qualität der Übersetzungen mehr als dürftig ist. Das ist aber nicht anders zu erwarten, denn das Fernsehen hat kein Geld und bezahlt die Übersetzer ausgesprochen schlecht.

Unser Fernsehen hat nur ein kleines Budget, da der 1. und 2. Kanal staatlich sind. Unsere Leute haben keine Gebühren zu bezahlen, aber nicht, weil der Staat so reich ist, sondern umgekehrt – weil er wegen der Armut der Leute Angst hat, dass sie sofort die Fernseher abmelden würden. So würde auch dies letzte Fenster zur Welt geschlossen sein.

Volkshochschulen und Landesbildstellen, wie ihr sie in Deutschland habt, gibt es bei uns überhaupt nicht.

Aber ich denke, an den grauenhaften Adaptionen in unserem Fernsehen sind auch die TV-Leute schuld, die im Kopf immer noch sowjetisch sind. Sie waren es gewöhnt, ihre Instruktionen von Moskau zu bekommen. Und persönliche Eigeninitiative wurde als Verbrechen gegen die Sowjetmacht angesehen. So war es bequem, auf Befehle von oben zu warten – und nichts zu tun. Aber nun ist solche Faulheit nicht mehr zu entschuldigen, da es unser Land und seine Kultur zurückwirft.

Wir wünschen es uns sehr, diesen Prozess zu stoppen, aber dies können wir nur mit guten Beispielen schaffen. Unsere Leute müssen erst einmal sehen und die Erfahrung machen, wie es sein könnte. Und ich denke, dabei kannst Du uns eine Menge helfen, mit Deinen Filmen, Deiner Arbeit. Es könnte eine wertvolle Erfahrung sein für unsere Zuschauer, die Fernsehleute und Jugend, die mit Medien arbeiten will. In Litauen haben wir keine Filmhochschulen, wie Du weißt. Und unser Fernsehen zeigt als Dokumentarfilme nur eine Menge – auch im Kulturkanal – von Tier - und Touristikfilmen, die es kostenlos bekommt. Politisch-historische Dokumentarfilme - wie Deine – gibt es so gut wie gar nicht. Alle geschichtlichen Fragen wurden gefälscht, und wir lebten in einer Welt der Lüge. Dokumentarfilm - das war für uns gleichbedeutend mit Propagandafilm. Sie zeigten das glückliche Leben im Sowjetreich, frohe Arbeiter und stolze, patriotische Kinder. Natürlich mochten wir diese Filme nicht besonders. Solche Filme wurden abgelehnt und ignoriert. Deshalb haben bei uns Dokumentarfilme ihre Notwendigkeit und Bedeutung verloren, denn junge, intelligente Leute, die noch etwas Achtung vor sich selbst hatten, beschäftigten sich nicht damit. Sie sahen darin keine Chance, denn alles war von der starken Hand der Parteibürokraten kontrolliert. Und dies hat Auswirkungen bis heute. Wir haben keine Tradition in dieser filmischen, öffentlichen, ernsthaften, kritischen Diskussion über historisch- politische Geschehnisse. Uns fehlen diese Beispiele, denen wir folgen könnten, die wir nachahmen könnten. Deine Filme könnten auf jeden Fall diese Lücke ein wenig ausfüllen, da sie ein Spiegel unserer Realität sind und uns die Gründe vor Augen halten, warum es so ist, wie es heute ist. Niemals habe ich dies bisher bei uns so scharf, aber auch so integer und offen gesehen!

Als meine Freunde und ich Deine Filme gesehen hatten, wünschten wir uns alle, dass Du unserem neuen, post-sowjetischen EU-Land helfen könntest, das große, strukturelle Veränderungen vor sich hat. Denn wir alle haben den sehnsüchtigen Wunsch, ein modernes Land mit zivilisierter Kultur aufzubauen und zu entwickeln, das Teil wird einer großen europäischen Gemeinschaft, mit all seinen Wünschen.

Sind es nur Träume? Greifen wir nur nach Sternen?

Jedenfalls freue ich mich sehr, Dich bald in Kaunas wieder zu sehen.

Sei bis dahin herzlich gegrüßt,
Erikas