I. Teil - Was ist das - Sterben?
Manche Kinder von Auschwitz erzählen von einer zunächst glücklichen Kindheit in ihrem Heimatort, von der Schule, vom Leben in der Jüdischen Gemeinde, vom Verhältnis zwischen jüdischen und nicht jüdischen Kindern, vom Einmarsch der Deutschen, von zunehmender Angst, von Flüchtlingen, von dem Chaos, das vor dem Abtransport herrschte, von dem Verhalten der "arischen" Freunde, vom "Einwaggonieren", von der Hilfe eines deutschen Soldaten, von der Ankunft in Auschwitz.
Die Kinder von Auschwitz erinnern sich an die Trennung von Eltern und Geschwistern, die sogenannten Kinderblocks in Auschwitz, an ihre Todesspiele, die an ihnen vollzogenen Experimente, ihre Sehnsucht nach den Eltern, einem guten Essen, einem warmen Federbett, nach Geborgenheit.
Die Kinder von Auschwitz erinnern sich mit großer Dankbarkeit an Frauen und Männer, die unter Lebensgefahr in das Lager eindrangen und sie retteten, kurz vor der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee.
II. Teil Was ist das - Leben?
Die aus dem Lager geretteten Kinder waren nur noch Haut und Knochen. Die Menschen , die sich um sie kümmerten , befürchteten , daß sie nicht überleben würden. Sie sahen wie Skelette aus, hatten Bißwunden von Hunden, ihre Körper waren von Geschwüren bedeckt , ihre Augen von Eiter völlig verklebt. Lange Zeit lief das Essen wie durch ein Sieb durch sie hindurch, sie hatten Tuberkulose, Lungen- und Hirnhautentzündungen ...
Die Kinder waren stark vom Lager geprägt worden. Sie sprachen meist ein Gemisch aus mehreren Sprachen.
Essensreste und kleine Gebrauchsgegenstände wurden noch lange Zeit von den Kindern versteckt, denn im Lager hatte jeder noch so kleine Gegenstand einen unmeßbaren Wert gehabt.
Die Kinder waren reizbar, mißtrauisch und feindselig. Hunde, Ratten und Uniformierte lösten bei ihnen unbeschreibliche Angstzustände aus. Wenn sie jemand verließ, setzten sie das mit "Tod" gleich. Viele Kinder konnten nicht glauben, daß Menschen eines natürlichen Todes sterben. Die Kinder hatten keinerlei Verhältnis zu den Dingen des täglichen Lebens. Tische dienten ihnen als Sitzgelegenheiten, Stühle als Wurfgeschosse, Eßbestecke als Instrumente ...
Die Kinder sagten ständig die Unwahrheit, es schien für sie überlebenswichtig zu sein. Mit Entsetzen stellten die Adoptiveltern fest, daß einige Kinder mit der Naziideologie infiziert waren und Lagerszenen nachspielten, in denen sie unter anderem als Bewacher ihre Opfer quälten. So wie es ihnen ihr kurzes Leben gelehrt hatte.
Mit dem Älterwerden bewegte die Kinder von Auschwitz zunehmend die Frage nach ihrer Herkunft. Bei der Suche nach den Eltern half oft die Häftlingsnummer, denn in Auschwitz wurde diese zuerst der Mutter eintätowiert, dann dem Kind die direkt folgende Nummer.
III. Teil Was ist das - Heimat?
Hunderte von Briefen, Telegrammen , Telefonaten und persönlichen Besuchen waren die Antworten auf die Bemühungen der Kinder von Auschwitz bei der Suche nach ihren Eltern. Nur ein paar Kinder haben nach vielen Jahren ihre Eltern wiedergefunden, meist anhand der Häftlingsnummer.
Die anderen fragen sich bis heute, ob ihre Familienangehörigen tatsächlich in den Gaskammern umkamen - oder vielleicht doch überlebten? Noch immer suchen sie - zumindest in ihren Träumen - nach ihren Eltern.
Die Kinder von Auschwitz, die ihre Eltern wiederfanden, befanden sich bald in dem Konflikt: Wer sind nun meine eigentliche Mutter, mein eigentlicher Vater? Fast immer lautete die Antwort: die Adoptiveltern. Sie fuhren zurück in das Land, das ihnen zur Heimat geworden war, dessen Sprache sie nun sprachen, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens in Geborgenheit verbracht hatten, wo ihre Adoptiveltern ihnen beigestanden hatten, das Leben zu meistem.
Die Kinder von Auschwitz müssen jeden Tag neu lernen, das Leben aus einer anderen Perspektive als der des Lagers zu sehen. Denn Überleben ist noch nicht leben, ist Zwischenzustand, ist lernen zu leben. Keines der Kinder von Auschwitz kann das Durchlittene vergessen. Alle quält die Frage, warum und wieso gerade sie überlebt haben , nicht ihre Eltern, Geschwister ...
Diese innerlich empfundene Schuld stellt für sie wohl heute die größte Bedrohung dar. Und ihre Kinder und Enkelkinder spüren das, reagieren mit Wut oder verstummen buchstäblich.
Trotzdem überwiegt das "Prinzip Hoffnung" in den Lebensgeschichten der Kinder von Auschwitz, die mehr als andere wissen, was Leben bedeutet. Aber wir haben uns sehr zu beeilen. Nur wenige Frauen und Männer, die Auschwitz als Kinder erleiden mußten, leben noch heute unter uns. Schon bald können wir niemanden mehr fragen.
Auschwitz - eine bleibende Chance
Eine Annäherung an die Leidens-und Lebensgeschichten der Kinder von Auschwitz ist möglich und wichtig, ist eine Bereicherung für unser Leben. Durch "persönliche Begegnungen" in Form dieses Filmes kann Betroffenheit entstehen, die etwas in uns zum "Klingen" bringt und uns nicht mehr loslässt. Wie viel oder wie wenig wir in Deutschland aus Auschwitz gelernt haben, zeigt der immer deutlicher werdende Prozess der Rückentwicklung in die Vergangenheit. Nur wenige haben das schlimme Ausmaß vorausgesagt, mit dem das vereinte Deutschland auch durch Fremdenfeindlichkeit, Überfälle auf Flüchtlingsunterkünfte, Anschläge auf Gedenkstätten, Hass auf Juden sowie Mord und Totschlag an Ausländern geprägt sein würde.
Wie wenig wir mitten in Europa aus Auschwitz gelernt haben, zeigen die nach 1945 nicht für möglich gehaltenen Brutalitäten, Morde, Kriege und Völkermorde im ehemaligen Jugoslawien. Auch heute werden in Europa tatsächlich noch Frauen, Männer und auch Kinder in Konzentrationslager verschleppt, vergewaltigt, totgetreten, erschossen, verstümmelt und verbrannt. Wie damals in Auschwitz.
Auschwitz ist also eine bleibende Möglichkeit des Menschen, mit dem Menschen umzugehen.
Wider allem Optimismus, wider allem vordergründigen Humanismus. Gerade heute zeigt sich: Auschwitz ist nicht in der Vergangenheit isolierbar als ein nicht zu wiederholendes geschichtliches Ereignis.
Die Erinnerung der ehemaligen Kinder - heute alte Frauen und Männer - an ihre Kindheit in Auschwitz und die Zeit danach lässt uns erkennen, wodurch wir heute zu Mittätern von Diskriminierung, Entrechtung und Völkermord werden.
Durch die Veröffentlichung der Lebensgeschichten der Kinder von Auschwitz wird der Nationalsozialismus nicht länger ein unfassbarer Ausrutscher der Geschichte, er wird alltäglich und konkret, hat eine Vorgeschichte und eine Zeit danach, bis heute.
So verstanden erhalten die Zeugnisse der Kinder von Auschwitz in Form dieses Filmes eine moralische und politische Dimension für heutige und zukünftige Generationen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sehr viele Kinder von Auschwitz namenlos geblieben sind. Sehr viele sind - wie von den Nazis geplant - spurlos, als Rauch für immer in den Wolken verschwunden.
Sie verschwinden noch immer - wenn wir nicht nach ihnen, ihren Kindern und Enkelkindern suchen, sie befragen und das Gehörte und Gesehene weitergeben.
Die Lebensgeschichten der ‚Kinder von Auschwitz‘ können für uns Nachgeborene Mahnung und Verpflichtung sein, aus ihrem Leben und Leiden zu lernen, dass Auschwitz nicht der Anfang vom Ende, sondern der Beginn eines Weges sein kann, der in eine menschenfreundliche und friedliche Zukunft für alle Menschen führt. Das ist das Vermächtnis der Kinder von Auschwitz an uns und alle zukünftigen Generationen.