Solothurner Bahnhofsvorplatz

H. Kaminski schildert seine Zusammenarbeit mit Dieter Roth


„Anfang 1970. Eines Tages kommt Dieter in meine Werkstatt und bringt ein S/W-Foto seines Bruders mit, aufgeklebt auf einer braunen Resopalplatte. Ein gemütliches, friedliches Bild: Auf einem Platz, umgeben von wohlhabenden Bürgerhäusern und begrünt mit Bäumen, tuckelt ein kleiner Fiat ins Bild. Nur drei Personen lustwandeln im Schatten. Sonntagmorgenstimmung auf dem „Solothurner Bahnhofsvorplatz“, diesem schweizerisch-deutschen Provinzstädtchen.

„Gefällt´s Dir? Dann mach was draus, wenn Du willst!“

Dies war Dieters Art: keine ultimativen Anordnungen, keine Befehle, kein Chefgehabe. Nicht seine eigene künstlerische Kreativität wollte er durchsetzen, sondern das schöpferische Potential seines Partners fordern und in seine Kunst integrieren.

„Was soll ich mit dieser Fotografie anfangen?“ „Am besten drucken“, sagt Dieter.

So kaufen wir dicke, weiße Kartons und geben eine Reproduktion des Fotos auf durchsichtiger Folie in Auftrag. Nun gibt  Dieter mir alle Freiheiten der Welt beim Drucken. Ich kann machen, was mein Herz begehrt: So wechsele ich die Farben, lass sie dick werden, so dass sie sich nur an einigen Stellen durch das Sieb auf das Bild pressen lassen oder verdünne sie so, dass sie verklieren und verschmieren. Manchmal lasse ich einfach die Farbe ausgehen oder nehme unterschiedliche Siebdruckrahmen, bespannt mal mit ganz feiner, mal mit ganz grober Seide. Verlängere und verkürze die Belichtungszeiten, die das Abbild der Reprofolie auf das Sieb kopieren. Manchmal rakele ich mit geringem Kraftaufwand die Farbe durchs Sieb, manchmal quetsche ich sie mit Gewalt durch und verzerre so das Bild. Oder ich bemale die Photoschicht des Siebes unterschiedlich dick, was keine gleichmäßige Ablichtung des Fotos zulässt. Alle Fehler – so sind Dieter und ich uns einig – sollen in das Bild integriert werden.

Eines Tages kracht meine abenteuerliche Lampenkonstruktion zusammen und die Birne zersplittert das Glas. „Die hat uns heute aber eine schöne Struktur geliefert“. So Dieters Kommentar dazu. Nun lassen wir alles so liegen und bestrahlen das „Unglück“ mit einer neuen Lampe. Das Resultat: Über das Abbild des „Solothurner Bahnhofvorplatzes“ legt sich als zweite Ebene die Struktur des gesplitterten Glases. Alles wird nun so gedruckt. Aber der eigentliche Auslöser für die vielschichtigen Veränderungen war die Primitivität – oder besser Einfachheit – meiner Werkstatt. Alles musste per Hand gemacht werden. Die Druckplatte bestand aus einem ausrangierten, alten Küchentisch – natürlich ohne Vakuum-Vorrichtung, die das Papier beim Druck ansaugte, damit es nicht verrutschte, und die Farbe wurde nicht maschinell, sondern mit dem Rakel schweißtreibend per Hand durch das Sieb gequetscht. Auch bei der Kopierung des Bildes, beim Belichten, fehlte das Vakuum zum Ansaugen. Nur das Gewicht einer Glasplatte presste die Fotofolie auf das Sieb, das auf einer Schaummatte lag. So konnten natürlich feine Rasterungen nicht perfekt abgebildet werden, was zu Moiré-Strukturen im Bild führte. Normalerweise ist dies das Leid und Schreckgespenst jedes Druckers, aber uns war dieser verhasste Fehler sehr willkommen und konnte sich in aller Schönheit entfalten mit all seinen vielfältigen, ästhetischen Reizen.